4238 De Bullion (2007/2008)
for solo piano and live digital sound and video processing
for Rei Nakamura
18’
WP April 2008, Hochschule für Musik Freiburg
Rei Nakamura
Edition Juliane Klein Order No.: EJK0344
Score Preview (Publisher, pdf)
Audio Sample (youtube-Link)
4238 De Bullion ist die Adresse meiner ehemaligen Wohnung in Montreal – eine typische Plateau-Altbauwohnung, bemerkenswert wegen ihrer funktionsunfähigen Heizung, den merkwürdig gestrichenen Wänden und ihrer Hellhörigkeit. Die Häuser sind meistens in zwei Hälften geteilt. Die Treppen winden sich an den Außenwänden in Spiralform hinauf von der ersten bis zur dritten Etage. Viele dieser Häuser wurden als Bordelle gebaut und bieten sich deswegen zur Beobachtung offener Geheimnisse an. Durch die hellhörigen Wände hört man die Nachbarn oben, unten, links und rechts – alle Streitigkeiten der Familie unten, die Gitarre des aufstrebenden Rockstars oben und seinen seufzenden weiblichen Besuch, der durch sein Spiel in Verzückung gerät. Man konnte durch die stets offene Hintertür der Nachbarn gehen und ein paar Eier ausleihen, auch wenn sie nicht anwesend waren. Auf der letzten Seite der Lokalzeitung erschien immer wieder die Bitte eines neugierigen Herrn an irgendeine junge Studentin, die sich auf der anderen Seite des Innenhofs bei offenen Vorhängen duschte, die Fenster ein kleines bisschen offen zu lassen, da die spannendsten Momente vernebelt wären.
Die Thematik meiner Komposition hat mich an dieses offen Verborgene erinnert, wo Geheimnisse laut verschwiegen werden und wo man sieht, was man nicht hört, und hört, was man nicht sieht. Die kleinen Szenen spielen in verschiedenen Räumen des Klaviers, vergleichbar den einzelnen Etagen der oben beschriebenen Häuser. Die Geschehnisse in diesen Räumen beeinflussen einander. Sie imitieren sich gegenseitig, bleiben aber unabhängig. Sie sind durch Bewegung und Klang verbunden, doch es ist nicht immer ein friedliches Zusammensein – Bewegung und Klang stehen von Anfang an in Konkurrenz zueinander. Sie kämpfen um den Vorzug, im Rampenlicht stehen zu dürfen. Die live-elektronische Bearbeitung von Bild und Ton dient dazu, diese Auseinandersetzung und die verschiedenen Grade von Sicht- und Hörbarkeit darzustellen.
Annesley Black